Das Studium der Brustflosse des Grönlandswales hat zu Fragen von allgemeinerem Interesse geführt. Ihre kurze und breite Form sowie ihre anscheinende Fünffingerigkeit, die ausserdem nur noch beim südlichen Glattwal (Balaena australis) vorkommt, liess sie ursprünglicher erscheinen als die schlankere und durchweg vierfingerige Brustflosse aller übrigen Bartenwale, bei denen also ein Finger verloren gegangen sein muss. Auch die Entscheidung darüber, welcher Finger verschwunden ist, war leicht gefällt, ist doch beim Grönlandswal der „Daumen” bereits ein rudimentäres Gebilde. So kam man zu dem Schlusse, dass es der erste Finger ist, der allen anderen Bartenwalen fehlt. Es war daher keine geringe Ueberraschung, als ich 1890 an den Brustflossen eines Embryo vom Finwal (Balaenoptera physalus L.) zwischen den beiden mittleren Fingern, gleichweit von jedem entfernt, einen Knorpelstab entdeckte, der aus drei bis vier Phalangen bestand, von der gleichen leicht eingeschnürten Sanduhrform, wie sie für die Bartenwale charakteristisch ist. Die Deutung dieses Gebildes als rudimentärer Finger war unabweisbar, und der Umstand, dass das Interstitium, in dessen distalem Teile er lag, von zwei Aesten des Nervus medianus versorgt wurde, die benachbarten nur von einem, schien mir ein vollgültiger Beweis dafür, dass es nicht der Daumen, sondern der Mittelfinger ist, der bei den Bartenwalen verloren gegangen ist. Der rudimentäre Mittelfinger ist bis jetzt in 9 Fällen und zwar sowohl beim erwachsenen Finwal wie auch bei Embryonen verschiedenster Grösse aufgefunden worden, stets gleichweit von den beiden benachbarten Fingern entfernt, und niemals in irgend welcher Verbindung mit einem von beiden. Von einer sekundären Abspaltung, wie sie bei manchen Zahnwalen in Erscheinung tritt, kann also keine Rede sein. Letztere von M. BRAUN (1907) und dann von seinem Schüler A. KUNZE (1912) vertretene Auffassung habe ich vor kurzer Zeit eingehend zurückgewiesen (1921) und gezeigt, dass die bei Zahnwalen entstandenen Neubildungen mit dem Fingerrudiment beim Finwal nicht das geringste zu tun haben. In seiner verdienstlichen Arbeit über die Brustflosse der Bartenwale erhebt KUNZE selbst den Einwand, dass es doch erstaunlich wäre, wenn bei den Furchenwalen einerseits der Daumen ausfalle, andrerseits aber zwischen den mittleren Fingern wiederum eine fingerartige Neubildung auftrete; er sucht diesen sehr berechtigten Einwand mit dem Hinweise zu entkräften, dass die landbewohnenden Vorfahren der Bartenwale, schon ehe sie sich dem Wasserleben anpassten, vierfingerig waren, oder aber dass die Brustflossen einen Funktionswechsel vom Lokomotions- zum Steuerorgan durchzumachen hatten, dem ein Wechsel in der Entwicklungsrichtung parallel ging. Als weitere Stütze seiner Auffassung, dass es doch der Daumen ware, der bei den Bartenwalen verloren gegangen sei, führt er die Anordnung der Muskulatur ins Feld, sowie den Umstand, dass beim Seihwal auch das dritte Interstitium eine doppelte Innervation vom N. ulnaris erhalte. Eine entgültige Entscheidung dieser interessanten Frage können wir erwarten, wenn wir das Handskelett des Grönlandswales in seiner Entwicklung kennen lernen, um zu entscheiden, ob dessen sogenannter Daumen wirklich den ersten Finger darstellt. Bis jetzt ist von diesem Handskelett folgendes bekannt: In ihrer grundlegenden Monographie über den Grönlandswal geben ESCHRICHT und REINHARDT (1861) eine gute Abbildung des Handskelettes vom Erwachsenen, an der sich der Daumen als kurzes, dem Radiale aufsitzendes Knorpelstück mit einem kleinen Knochenkern erkennen lasst. Das Gebilde ist etwas nach innen eingekrümmt und wird als Metacarpus des Daumens bezeichnet. An einem Neugeborenen und zwei grossen Foeten konnten die Verfasser aber keine Spur einer Trennung zwischen diesem Gebilde und dem darunter liegenden Knorpelelement wahrnehmen, und kommen zu dem Schlusse, dass es unsicher ist, ob man überhaupt von einem Daumen beim Grönlandswal reden kann, solange dessen Carpus noch gänzlich knorpelig ist. An zwei grösseren foetalen Flossen, die ich (1893 p. 250) abbildete und beschrieb, fand ich an der einen ebenfalls eine fast völlige Verschmelzung des Daumens mit dem darunter liegenden Radiale vor; zum Unterschied vom Erwachsenen sass das Gebilde aber mehr seitlich dem Radiale an, während der benachbarte Finger mit seinem proximalen Metacarpalende in voller Breite mit der oberen horizontalen Fläche des Radiale artikulierte. Da ein solches radial dem Carpus ansitzendes Knorpelstück auch bei den Furchenwalen vorkommt, wo es als Präpollex bezeichnet wird, nahm ich keinen Anstand, auch beim Grönlandswal den vermeintlichen Daumen mit dem Präpollex zu identifizieren. Neuerdings meint WINGE (1919, p. 119), dass dieser merkwürdigen Deutung wohl mein Wunsch zu Grunde gelegen hätte, eine Uebereinstimmung mit Balaenoptera zu erzielen, bei der ich des Glaubens wäre, nachgewiesen zu haben, dass nicht der Daumen, sondern der dritte Finger verloren gegangen sei. Ohne Beibringung eigener Beobachtungen erklärt er das von mir aufgefundene Rudiment des dritten Fingers für ein paar losgerissene Fingerglieder, von denen es nicht zweifelhaft sein könne, dass es sich um eine Missbildung handle. Wenn ich es nunmehr unternehme, meine Deutung auf embryologischem Wege zu begründen, so weiss ich sehr wohl, dass ich darauf verzichten muss, auch WINGE davon zu überzeugen. Ware der sogenannte „Daumen” beim Grönlandswal wirklich ein rudimentär werdender Finger, so müsste er unbedingt in seinen Entwicklungsstadien vollkommener ausgebildet sein, und seine Fingernatur deutlicher zeigen, als beim Erwachsenen. Dagegen sprechen schon die von ESCHRICHT und REINHARDT und später von mir gemachten Angaben, nunmehr bin ich aber in der Lage, an einem relativ jungen Entwickelungsstadium den bündigen Nachweis zu führen, dass dieses Gebilde überhaupt kein Finger ist.